In meinem letzten Essay, in dem ich Eliza Plater von einer Affäre freisprach, die sie so nie hatte, verwendete ich Beatrix Cary Davenports wunderschönes Zitat zu Gouverneur Morris’ “Panzerung seines Herzens, die in Paris so sehr ausdünnte.”
Dieser Verschleiss war ein gradueller Prozess. Die Abtragung so sanft wie seine Versuche, sein zartbesaitetes Herz zu schützen.
Eine geheime Verehrerin
Da sich Thomas Jefferson weigerte, ihn in ministerielle Kreise einzuführen, bahnte sich Gouverneur Morris seinen eigenen Weg in die Pariser Gesellschaft und fand rasch Eintritt in den Adel und die Salons. Er war stets ein sehr gern gesehener Gast, und selbst Herzoginnen und Prinzessinnen bemerkten nicht nur seine Absenzen, sondern beklagten sich darüber, wenn er sich eine Weile lang nicht blicken liess.
Morris gab sich anfangs “aggressiv aufrecht”, schrieb in Briefen, sein “Herz ist geschlossen” für alles, was es betrifft. Doch “Galanterie, klug gemischt mit Politik, war der höchste Zeitvertreib französischer Frauen des 18. Jahrhunderts.”
Und so geschah es, dass er an einem schönen Sonntag im April “zu seiner großen Überraschung ein Billet-doux von einer Dame” empfängt, “das eine Liebeserklärung enthält, jedoch anonym.“
Er bezeichnet seine Antwort als “zweideutig” und schickt sie mit dem Botenjungen fort, während er zugleich seinen Diener beauftragt, diesem in diskreter Entfernung zu folgen. — Schon jetzt wird klar: Seine Entschlossenheit ist auf die Probe gestellt.
Der Mann, der darauf beharrte, sein Herz sei versiegelt, findet sich plötzlich halb geschmeichelt, halb alarmiert und komplett neugierig.
Die Anonymität des Billets gibt ihm nicht nur die Möglichkeit mitzuspielen, nein, das Geheimnis sticht direkt durch seine Einsamkeit. Der kleine Funke genügt, ihn zwischen Vernunft und Verlangen ins Wanken zu bringen.
Was als schlichter Papierzettel beginnt, verleitet ihn schnell zu immer aufwendigeren Spekulationen darüber, welcher Hand er wohl entstammen mochte…
Aus dem Tagebuch des Gouverneur Morris
April 1798
Sonntag, 26. — Ich schreibe eine zweideutige Antwort an die schöne Incognita und sende Martin dem Boten zu folgen, ein kleiner Junge der sie einer wartenden Frau übergibt die zum Hause des Herrn de Millet geht. Es stammt folglich von seiner Geliebten, die sicherlich Beachtung verdient.
Nun: Wer ist Herr de Millets Geliebte, und warum ist sie der Aufmerksamkeit wert? Morris hatte sie zuvor nur zweimal erwähnt.
Mittwoch, 15. — Besuch bei Herrn Millet. Er ist beim Spiel mit einer Gruppe Menschen, die wie Glücksspieler aussehen. Madame ist ausser Haus und vermutlich mit einem anderen Spiel beschäftigt.
Weniger als eine Woche später erscheint die Geliebte in seltsamem Detail:
Dienstag, 21. — Herr Millet hat seine Geliebte purgiert, um ihren Magen zu reinigen. Sie wendet sich an mich um zu erfahren ob dies notwendig war und ich versichere ihr das sei nicht so, da ihr Atem sehr süss ist. Sie scheint zu denken, Monsieur medikamentiere sie zu sehr. Er meint es gut aber sie wäre mehr erfreut Zeichen der Zuneigung auf andere Art zu erhalten.
Das Bild ist zärtlich und absurd zugleich: Eine Frau, von ihrem Liebhaber übermedikamentiert, wird von Morris mit einem Kompliment beruhigt, das genau so intim wie praktisch ist. Bemerkenswert ist nicht sein Mitgefühl, das war bei ihm selbstverständlich, sondern dass er diesen Moment nachträglich erwähnenswert fand.
Einige Stunden nach dem Versenden seiner zweideutigen Antwort besucht Morris Mr. Millet, findet aber keine Gelegenheit, mit dessen Geliebter unter vier Augen zu sprechen.
Zwei Tage nach dem ersten erreicht ihn das zweite Billet:
Dienstag, 28. — Ich erhalte ein zweites Billet von meiner anonymen Korrespondentin worin sie wünscht dass beide zurückgegeben werden. Ich entspreche dem nachdem ich die Vorsicht walten liess zuvor Kopien anzufertigen. Dies hat mehr mit der Besonnenheit des Alters zu tun als mit der grosszügigen Wärme der Jugend aber wie kann ich den Fortgang der Zeit aufhalten, er bleibt nicht für mich stehen.
Die Bemerkung am Ende ist für ihn typischer und sehr häufig wiederholter Selbstspott. Das Kopieren der Billets vor der Rückgabe hatte nichts mit seinem Alter zu tun, sondern mit seiner Gewohnheit als Jurist und Schriftsteller, seine gesamte Korrespondenz selbst zu kopieren. Es war Routine, Fleiss, ja Selbstschutz sogar. Nichts Ungewöhnliches, abgesehen der Tatsache, dass er keine Angestellten dafür hatte.
Und doch macht er eigens eine Bemerkung, nur um es als Beweis zu rahmen, dass er mit seinen 37 Jahren nicht länger jung und leidenschaftlich, sondern alt und vorsichtig sei. Schon jetzt versucht er, sein Herz vor der Möglichkeit zu schützen, dass aus der Affäre nichts werden könnte.
Am nächsten Tag wird es spannend:
Mittwoch, 29. — Gehe ins französische Theater. Sitze in der Loge von Herrn Millet. Aus dem, was Madame auf einen kleinen Hinweis von mir sagt, scheint hervorzugehen, dass die Billets nicht von ihr stammen. Ich sehe in dieser zweiten Loge keine mir bekannten Personen. (…) Komme nach Hause und untersuche die Billets erneut. Ich habe mich gewaltig geirrt. Ich hätte die erste Loge untersuchen müssen, denn dort sollte meine Korrespondentin sitzen. Befrage Martin erneut zum Boten. Er gibt sich sehr umständlich, und aus dem Ganzen schliesse ich, dass die Dame über eine unendliche Anzahl Adressen verfügt und dass ich ungeheuer dumm bin. Sofern sie die Korrespondenz nicht wieder aufnimmt, kann ich sie unmöglich herausfinden. Meine Neugier ist nun ebenso stark wie eine andere Leidenschaft, die, wenn sie es ernst meint, für sie ebenso angenehm wäre.
Da haben wir es. Mr. Morris verliert die Fassung.
Ein einziger Hinweis von Madame, der andeutet, dass sie es nicht war, reicht aus, um ihn zu erschüttern.
Wenn es nicht Millets Geliebte ist, wer dann? Er schaut sich in der zweiten Loge um, sieht aber keine bekannten Gesichter. Später zu Hause wird ihm klar, dass er sich die erste Loge hätte ansehen sollen. Er befragt Martin erneut und nennt sich selbst “ungeheuer dumm”.
Doch unter dem komödiantischen Spektakel liegt etwas viel Tiefgründigeres:
Denn wenn es irgendjemand sein könnte, dann ist es vielleicht jemand en particulier…
Diese Möglichkeit – fern, gefährlich, berauschend und nur in seinem Kopf – entfacht seine Neugier, und setzt sie der Leidenschaft gleich, die er soeben beiläufig und anscheinend unabsichtlich eingestanden hat.
Aber welche Leidenschaft könnte einen Gouverneur Morris dazu bringen, all die Vernunft aufzugeben, die er so sorgfältig hegt und pflegt?
Der nächste Tag bringt Morris der Wahrheit nicht näher, aber er bringt für die Leserinnen und Leser gehörig Licht in die Sache. Er trifft sich mit seinem Geschäftspartner und Freund Mr. Parker, der bei ihm war, als die erste Nachricht eintraf.
Donnerstag, 30. – Ich erzähle ihm von meiner Enttäuschung hinsichtlich der Dame, meiner unbekannten Korrespondentin. Er war im Theater. Hat mich gesehen. Hat nach dem Namen der Dame gefragt, neben der ich sass, usw. Er sagt, es habe nur eine en-première gegeben, die möglicherweise die Person sein könnte, und seine Beschreibung führt zu Madame de Flahaut. Frage: War sie dort? Er besteht darauf, dass ich mit meiner ersten Vermutung richtig lag und dass es Madame Roselle ist. Ich bezweifle es.
Da ist es: Plötzlich fällt ihr Name – Madame de Flahaut. Zunächst nur durch Parkers Beschreibung, aber Morris greift es mit der Begeisterung eines Mannes auf, der bereits von Leidenschaft erfüllt ist. Parker rudert zurück und versichert ihm, dass es doch Roselle war, doch Morris schreibt unverblümt: “Ich bezweifle es.”
Was hat sich geändert? Nicht die Beweislage. Er hat nicht mehr als am ersten Tag, als er sich sicher war, dass es Roselle ist, so sicher, dass er sie subtil verhörte.
Was sich geändert hat, ist Morris selbst.
Mittlerweile war er mit den Spielen der Verführung bestens vertraut und mehr als fähig zu erkennen, wenn eine Geliebte mit ihm spielte – indem sie ihn auf die falsche Spur verwies, um die Spannung noch ein wenig länger aufrecht zu erhalten zum Beispiel.
Aber Gouverneur ist so sehr in seiner eigenen Voreingenommenheit gefangen, so begierig auf die Möglichkeit, dass es Flahaut sein könnte, dass er das Offensichtliche ignoriert. Selbst Martin, dessen vorsichtige Ausflüchte ihn hätten bremsen können (“Ja, sie war definitiv bei Millet, aber ja, Sir, es könnte sein, dass die Dame auch andere Nachrichten überbracht hat…”), wird stattdessen zum Auslöser für Morris' Selbstverurteilung: Der scharfsinnige, intelligente Anwalt, Kongressabgeordnete, Finanzier und Autor der Verfassung der Vereinigten Staaten murmelt in seinem Tagebuch: “Ich bin ein Idiot! Natürlich könnte es von jeder beliebigen anderen Adresse stammen!“
Er ist nicht er selbst.
Der Hinweis auf Flahaut, egal wie nebensächlich oder indirekt er auch sein mag, bestätigt seine innere Voreingenommenheit; Er fühlt sich bestätigt im Sinne “einer anderen Leidenschaft, die, wenn sie es ernst meint, für sie ebenso angenehm wäre…”
Natürlich bricht das Konstrukt in seinem Kopf zusammen, als er plötzlich mit der Realität konfrontiert wird. Dies wäre keine Geschichte über Morris, wenn sie nicht auf die chaotischste und enttäuschendste Weise enden würde, die man sich vorstellen kann.
Freitag, 1. Mai. – Ich ziehe mich an und gehe zu Herrn Millet, wo sich die Gesellschaft trifft. Madame wartet auf ihre Haube, und danach warten wir auf einige andere Personen der Gesellschaft. Wir begeben uns zum Palais Bourbon; (...) von dort aus gehen wir ins Cabaret und essen Matelotte. (...) Nach dem Abendessen schlagen die Damen vor, an die Seine zu gehen, womit ich gerne einverstanden bin. Dort werden wir weniger beobachtet, was angesichts meiner Begleitung von einiger Bedeutung ist. Herr Millet will nicht mitkommen, und Madame ist froh, ihn loszuwerden, was er zu bemerken scheint, und geht allein nach Hause, um sich den Gedanken hinzugeben, die eine solche Vorstellung unweigerlich hervorruft.
Wir steigen in ein schmutziges Fischerboot und setzen uns auf quer darüber gelegte Bretter. Mademoiselle, die mit hübscher Spitze verzierten Musselin trägt, trägt viel zur Schönheit ihres Kleides bei, das dabei völlig verschmutzt wird. Ihre Freundin scheint sich über meine Aufmerksamkeiten ihr gegenüber sehr zu freuen, und sie versucht, bescheiden zu sein, ahmt diesen Charakter jedoch schlecht nach.
Nachdem wir eine beträchtliche Strecke zurückgelegt haben, steigen wir wieder auf die Barrière de Chaillot, aber aufgrund eines Fehlers in der Reihenfolge, der schon viele Schlachten gekostet hat, sind unsere Kutschen nicht zu finden. Wir gehen in Richtung Stadt. Die Frauen sind so wild wie Vögel, die aus einem Käfig befreit wurden. Wir schicken die Männer in verschiedene Richtungen los, erhalten jedoch keine Nachricht von unseren Kutschen. Wir überqueren den Fluss und suchen dort, wo wir zu Mittag gegessen haben. Da wir sie dort nicht finden, kehren wir zurück, um den Fluss erneut zu überqueren. Wir treffen einen Diener, der uns mitteilt, dass die Kutschen an der Grille de Chaillot stehen. Wir überqueren den Fluss erneut. (…)
Nachdem wir einige Zeit auf die Kutschen gewartet haben (währenddessen sich die Frauen mit Herumrennen vergnügen), kommen sie endlich an und ich komme nach Hause. (…) Dann sitze ich eine Weile und lese bis kurz vor zwei Uhr und gehe dann, von den Vergnügungen dieses Tages zutiefst erschöpft, zu Bett, wenn ich den Dingen, die mich überhaupt nicht amüsiert haben, diesen Namen geben darf. Ich neige dazu zu glauben, dass Madame Roselle meine unbekannte Korrespondentin ist, aber es ist mir völlig egal, wer es ist. Eine Verpflichtung, an der das Herz teilhaben kann, kommt für mich nicht in Frage; und was die Person betrifft, so bin ich weder jung genug noch alt genug, um mich in dieser Hinsicht zum Narren zu machen. Es war schöner Tag, der sehr schlecht genutzt wurde. Aber um alles zu wissen, muss man alles sehen.
Morris schliesst sich Millet, Roselle und ihrer kleinen Gesellschaft für einen Tag voller Musse an. Das Tagebuch ist anfangs ungewöhnlich reich an sinnlichen Details: Roselles mit Spitze besetzter Musselin, ihr nasses und schmutziges Kleid, als sie in ein Fischerboot steigen, das definitiv nicht Morris’ Sauberkeitsvorstellungen entspricht, und die Frauen, die wie freigelassene Vögel wild herumrennen...
Er nimmt alles wahr: die Texturen, die Bewegungen, sogar die Versuche der Freundin, sich zurückhaltend zu geben, woran sie wahrscheinlich strategisch absichtlich scheiterte. Seine Aufmerksamkeit ist unverkennbar auf Roselle gerichtet, sowohl auf ihren Körper als auch auf die Szene.
Mr. Millets Weigerung, an der Exkursion teilzunehmen, und Roselles offensichtliche Absicht, “ihn loszuwerden”, bringen Morris aus der Reserve. Er hält im Tagebuch fest, was für Gedanken sich Millet über eine so offene Zurückweisung gemacht haben muss. In der Realität ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass sich Morris hier in Millet selbst hineinprojeziert. So würde nämlich er fühlen, wäre Roselle seine Geliebte, die ihn zu Gunsten eines anderen abgewiesen hat. Millet selbst hat sich wahrscheinlich gar keine Gedanken dazu gemacht, wenn man bedenkt, wie er die arme Madame wenige Wochen zuvor zu medizinischen Kuren zwang, anstatt ihr Zuneigung zu schenken.
Aber mit der fortschreitenden Tageszeit wird Gouverneurs Ton ungeduldiger. Das Chaos mit den Kutschen, das endlose Hin- und Herlaufen und Überqueren des Flusses, die Ausgelassenheit der Frauen… Was man als charmante Spontaneität lesen könnte, irritiert ihn stattdessen. Was mit sensorischer Faszination begann, endet in kompletter Ablehnung: “den Dingen, die mich überhaupt nicht amüsiert haben.”
Das widerspricht auch sehr stark der detailreichen Beschreibung des Seilrollensystems vom Zugboot das sie benutzten um den Fluss zu überqueren, und sich im selben Eintrag findet, was durchaus für einen gewissen Begeisterungsgrad spricht. Ich habe die 104 Wörter dazu zu Gunsten meiner Leserinnen und Leser ausgelassen.
So kommt am Ende der Zusammenbruch. Er gibt zu, dass er mittlerweile glaubt, Madame Roselle ist seine unbekannte Korrespondentin, aber es sei ihm völlig egal. wer es ist. Emotionale Bindung kommt ja sowieso nicht in Frage, denn er sei weder zu jung noch zu alt, sich “in dieser Hinsicht zum Narren zu machen”.
In welcher Hinsicht, Mr. Morris?
Die Zweideutigkeit hängt von “der Person” ab. Oberflächlich betrachtet lehnt er Roselle erneut ab, weil sie zu jung, zu albern ist. Er wiederholt, dass er sich nicht dazu verleiten lassen wird, was für sie zu empfinden. Doch Gouverneur Morris Tagebücher machen keine Wiederholungen.
Sein Syntax lässt uns einen Blick auf den Schatten darunter werfen. Indem er “was die Person betrifft” schreibt, statt sie wie üblich als „Roselle / die Erstere / Letztere / die Geliebte / Madame” zu bezeichnen, zieht er die andere mögliche Korrespondentin mit ein – Madame de Flahaut.
Wenn wir es so lesen, ändert sich der Ton nämlich völlig, und das Ende der Nacht, in der er ungewöhnlich lange aufbleibt (tatsächlich so lange wie noch nie zuvor festgehalten wurde), wird noch Morrissianischer:
Seine Dummheit bezieht sich nicht auf Roselle, er hat nie mehr als Neugierde in sie investiert; der Stich der Selbstvorwürfe bezieht sich darauf, dass er es gewagt hat, sich vorzustellen, Flahaut hätte ihn ausgewählt.
Er versucht erneut, sich präventiv zu schützen: Lieber sagt er “Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass sie mich mögen könnte”, als zuzugeben, wie sehr er sich das wünscht.
Auf diese Weise funktioniert der Satz als klassische Morris-Selbstabwehr:
Er nimmt die sichere Oberfläche (Roselle = “junges Mädchen, mir egal”), aber darunter ringt er bereits mit der erschreckenden, berauschenden Möglichkeit einer anderen Person, für die er bereits eine beachtliche Leidenschaft hegt.
Der “Narr”, den er so sehr zu sein fürchtet, ist nicht der von Roselle —
es ist der von Adélaïde-Émilie Filleul de Flahaut.
So schreibt er kurzum den kompletten Tag als Verlustgeschäft ab.
Es ist bittere Ironie: Er beginnt mit Begierde, registriert jedes Detail ihres Körpers und ihrer Kleidung, dann verdeckt er seine Enttäuschung mit Verärgerung und selbstschützender Verleugnung. Seine Leidenschaft ist ausgelöscht. Es ist die Tagebuchversion davon, wie er seinem eigenen Herzen die Tür vor der Nase zuschlägt.
Samstag, 2. Mai. – Ich kehre um ein Uhr nach Hause zurück und finde auf meinem Tisch einen Brief von meiner Incognita, gebracht von der Penny Post, der unsere Korrespondenz beenden soll. Ihre Vernunft hat ihre Leidenschaft überwältigt &ca. &ca. Wenn das wahr ist, Madame, muss die Vernunft sehr stark oder die Leidenschaft sehr schwach sein, und ich wette zehn zu eins auf Letzteres. Ich denke, die Chancen stehen gut, dass Sie Ihre anderen Leidenschaften für Madame Vernunft und Herrn Pflicht als Hilfsmittel in Dienst genommen haben.
Ich könnte dies leicht beweisen, aber ich habe andere Dinge zu bedenken.
Roselle schliesst die Tür.
Und plötzlich vermutet er, dass ihre Leidenschaft von Anfang an nur schwach war und ihre beiden Hilfsmittel-Leidenschaften der, gegenüber Mr. Morris, überwogen: eine für “Madame Vernunft”, ihr Anspruch auf rationale Zurückhaltung, und eine für “Herr Pflicht”, ihre Verpflichtungen gegenüber Mr. Millet, ihre Rolle als Geliebte, ihre gesellschaftliche Stellung.
Das ist geistreich, selbstschützend und etwas verbittert. Nachdem er zurückgewiesen wurde, tut Morris das, was er immer tut: Er zieht sich in sich selbst zurück, verwandelt Schmerz in Allegorie und schliesst das Buch mit einer Tapferkeitsgeste.
Die enthüllte Unbekannte
Ganz am Anfang bemerkte Morris, dass Millets Geliebte “sicherlich Beachtung verdient”, ohne zu erklären, warum.
Erst später löst sich das Rätsel auf: Als Parker die Frau im Theater beschreibt, hört Morris in der Beschreibung Madame de Flahaut heraus, obwohl Parker darauf besteht, dass er Roselle gemeint habe. Die einfachste Erklärung ist, dass Roselle Flahaut ähnlich genug gesehen haben muss, um in Morris' Kopf Assoziationen zu wecken. Das machte sie für ihn trotz seines anderweitig geschlossenen Herzens interessant.
Das würde nämlich alles erklären: seine anfängliche Neugier, seine zwischenzeitliche Leidenschaft und seine letztendliche Enttäuschung.
Sobald er die Möglichkeit in Betracht zog, dass es Flahaut sein könnte, schwand sein Interesse an Roselle, und die Projektion zerbrach. Was er in ihr zu erkennen glaubte, wurde von der schieren Möglichkeit in seinem Kopf übertrumpft, und sein Interesse an der jungen Pariserin zerfiel in Selbstvorwürfe.
Andere Dinge zu bedenken
Roselles Billets enden mit Vernunft und Pflicht, aber Morris' Tagebuch hinterlässt uns etwas Bleibenderes: den flüchtigen Blick auf ein Herz, das mit sich selbst Krieg führt.
Seine anwältliche Vorsicht kopierte die Notizen; sein Witz formte die Allegorien; seine Tapferkeit beharrte darauf, dass es ihm egal sei. Doch unter all dem wurde seine Neugierde von einer bereits vorhandenen Leidenschaft angeheizt.
Deshalb ist diese Episode so wichtig.
Roselle selbst verblasst – eine Figur, die gleichzeitig lebhaft und enttäuschend ist, die Aufmerksamkeit verdient und trotzdem nie das wahre Objekt für ihn ist. Und in ihrem Kielwasser liess Morris durchblicken, dass seine Panzerung dünner war, als er selber zu glauben schien. Er konnte immer noch bewegt werden, immer noch durchdrungen werden, immer noch hoffen.
Es ist dieser schwache Riss, dieses kurze Aufleuchten der Hoffnung inmitten der Verleugnung, das den Boden für das bereitet, was als Nächstes kommt.
Roselle ist nicht das Ende der Geschichte, sondern nur ihre Probeaufführung. Denn bereits in Morris' Kreis – als Reisebegleiterin, als Freundin – ist sie: Madame de Flahaut. Ihr Name tauchte scheinbar zufällig in der Incognita-Affäre auf. In Wirklichkeit war es jedoch eher ein unbeabsichtigter Blick in den Kern des Vulkans.
Sie wird nicht als vorübergehende Intrige auftreten,
sondern als Antwort seiner ans Licht gebrachten Sehnsucht.
👁🗨 Fortsetzung folgt in “Die Kunst der Verführung - Part III”…
Alle Zitate in diesem Beitrag stammen aus
Davenport, Beatrix Cary. A Diary of the French Revolution by Gouverneur Morris 1752-1816 Minister to France during the Terror. George G. Harrap & Co. Ltd., 1939.
Alle Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche (sofern nicht anders angegeben) habe ich persönlich in Zusammenarbeit mit ChatGPT (OpenAI, GPT-5, September 2025) angefertigt.