Mit diesem Essay möchte ich den Mythos von Gouverneur Morris als der “Schürzenjäger” unter den Gründervätern weiter aufbrechen und ihn in seiner Komplettheit wieder sichtbar machen. Er war ein brillanter, neurodivergenter, tief verwundeter Mann, der sich vor allem nach Liebe, Zugehörigkeit und Fürsorge sehnte und nicht nach Eroberung, wie die meisten Biografinnen und Biografen uns bisher glauben machen wollten.
Im Jahr 1780 erlitt der achtundzwanzigjährige Morris einen schweren Unfall, der ihn sein linkes Bein kostete. Das medizinische Trauma und sein ohrenbetäubendes Schweigen, mit dem er es ertrug, verdient eine eigene Erzählung.
Hier möchte ich dem nachgehen, was danach geschah: seine Rekonvaleszenz und die vermeintliche Romanze, die daraus entsprungen sein soll…
… die es aber gar nie gab.
Was Tinte und Pergament aufzeigen ist keine Spur der Verführung, sondern etwas weitaus Zerbrechlicheres und viel Bewegenderes:
Freundschaft, Fürsorge und Freundlichkeit und – weil es Morris ist – leider, vor allem…
Schuld.
I. Geburt eines Schürzenjägers
Gouverneur Morris’ Ruf als Libertin und Gründervater-Playboy ist nicht über Nacht entstanden. Die Narrative hat sich über die zwei Jahrhunderte hinweg gebildet, bis die Erzählung Kanon war. Den Grundstein dafür legte eine angebliche Romanze mit einer verheirateten Frau, die ihn während seiner Genesung nach der Amputation gepflegt haben soll.
An diesem Beispiel möchte ich gerne aufzeigen, wie der Mythos durch Generationen von Biografisten wuchs, die einander solange wiederholten, bis Annahmen schliesslich wie Tatsachen klangen:
1832
Morris’ erste Memoiren, verfasst von Jared Sparks mit Unterstützung von Gouverneurs Witwe Anne Morris, trafen den richtigen Ton. Sparks schrieb lediglich, dass sich um Gouverneur nach dem Verlust seines Beines gekümmert wurde
“im Hause des Herrn Plater,” mit “jeglicher Aufmerksamkeit, die Güte und Mitgefühl diktieren, und für die er zeitlebens das stärkste Gefühl von Dankbarkeit bewahrte.“1
1889
Morris’ Enkelin Anne Cary Morris veröffentlichte seine erste “selbstverfasste” Biografie, basierend auf denselben Materialien, mit Briefen, die er schrieb, und Auszügen aus seinen Tagebüchern, die er sein Leben lang führte.
Die Platers finden darin gar keine Erwähnung.
Doch möchte ich gerne folgende Passage hervorheben:
Seine Briefe an seine Mutter waren wenige und unbedeutend. Im Jahre 1778 schrieb er ihr, dass er, seit er Morrisania verlassen habe, niemals unmittelbar von ihr gehört hat, und ‘niemals die Genugtuung gehabt habe zu erfahren, dass von den vielen Briefen, die ich schrieb, Dir auch nur einer jemals zugegangen ist.’2
1939
Ein Jahrhundert später veröffentlichte Gouverneurs Urenkelin Beatrix Cary Davenport die persönlichen Tagebücher, die er während der Französischen Revolution geführt hatte. Als talentvoll und überragende Schriftstellerin fügte sie etwas Ausschmückung hinzu und brachte so den Stein ins Rollen.
Gehegt im Hause des George Plater, (…) von Eliza, seiner Frau, war die Dankbarkeit sanft umringt von Romantik, welche eine dezente nicht zu aufdringliche Melancholie hinterliess, die Panzerung seines Herzens, die in Paris so sehr ausdünnte.3
1952
In seinem “The Extraordinary Mr. Morris” zitierte Howard Swiggett erst Sparks, griff dann jedoch ein Jahrzehnt weiter, um seine Behauptung zu stützen:
Das würde alles zu sein scheinen, wäre da nicht ein Eintrag von unvergleichlicher Emotion seitens Morris’ in seinem Tagebuch vom 5. Mai, zehn Jahre später.4
Wir wenden uns dem Eintrag im nächsten Kapitel zu.
1970
Max Mintz malt noch weiter aus:
“Elizabeth pflegte Morris mit mehr als nur gewöhnlicher Güte,” schrieb er, und bei Morris hätte “ihre Zuwendungen mehr als nur Dankbarkeit erregt.”5
2003
Richard Brookhiser stützte sich schwer auf dieses Gerüst für das wohl sensationslüsternste Porträt von Morris in seinem “The Gentleman Revolutionary”, um Morris als “The Rake who wrote the Constitution” zu porträtieren. Ein englischer Ausdruck, der für den vergnügungssüchtigen, oft zynischen Fraueneroberer des 18. Jahrhunderts stand. Ich übersetze ihn hier mit “Schürzenjäger”; weniger moralisch abwertend als “Wüstling”, aber etwas harscher als “Frauenheld”.
Der vermeintlichen Plater-Affäre sind fast drei Seiten gewidmet, allerdings ohne neue Quellen oder Belege dafür einzubringen. Am auffälligsten ist seine Schlussfolgerung, dass die Zuwendung einer verheirateten Frau in Morris’ verwundbarster Stunde ihm ein permanentes Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen Männern verliehen habe.
Ein seltsames und unbegreifliches Urteil, mehr auf Projektion als Dokumentation beruhend und durchdrungen vom Phantom hegemonialer Männlichkeitsfantasien.
2004
Melanie Randolph Miller folgte in “Envoy to the Terror” mit einer sehr selbstsicheren Eskalation:
Morris verliebte sich in die feinsinnige und liebliche Elizabeth, und sie muss ebenso berührt gewesen sein, denn sie tauschten noch lange nach seiner Abreise verblümt romantische Briefe aus.6
Doch keinerlei Quellen oder Briefe hierfür werden genannt.
2024
Und weiter wuchs der Mythos noch immer. In ihrer neuesten Biografie legte Miller noch einmal nach: Sie beschrieb Eliza als “unwiderstehlich” für Morris und beharrte darauf, sie habe “ihm seine Gunst erwidert”. Als Stütze zog sie eine aus dem Zusammenhang gerissene Zeile von Elizas Briefen heran – ein schlichtes, beinahe flehentliches Verlangen, Morris möge sie Mal besuchen – und präsentierte es als Beweis der Verführung.
Ihre Behauptung, Eliza habe
“Gouverneur überredet, seine unangebrachte Umerbung einzustellen”7
ist mehr als nur fehlleitend: Sie dreht die Wahrheit ins Gegenteil, indem sie die treue Korrespondenz einer verheirateten Mutter von sechs Kindern mit gesundheitlichen Leiden mit sinnlichem Begehren befüllt, wobei sie lediglich wiederholt einen Freund um Besuch bat.
So viel Tinte ist bis heute darüber vergossen worden, Gouverneurs angebliche Leidenschaft für Eliza auszumalen. Doch das Gemälde wandelt sich, sobald wir betrachten, was tatsächlich aus seinen und ihren Federn geflossen ist.
II. Beweise, Beweise, Beweise — “so ruhst du in Frieden”
Leider haben es Gouverneur Morris’ Briefe an George und Elizabeth Plater nicht in die Langzeitarchivierung geschafft. Die überlieferten Materialien bestehen aus den Briefen der Platers an ihn und aus Morris’ eigenen Tagebüchern.
Während die Korrespondenz der Platers ein wertvolles Zeitzeugnis liefert, kann Morris’ Perspektive vor allem durch seine Tagebücher rekonstruiert werden, wo sein Gebrauch von Zitaten, sein Tonfall und sein rhetorisches Register die Geschichte “zwischen den Zeilen” erzählt.
Hier ist also sein Tagebuchauszug, wie ihn Beatrix Davenport transkribierte, den Howard Swiggett als Liebesklagelied las:
Mittwoch, 5. Mai, 1790 — London
Um fünf gehe ich zum Dîner bei Mr. & Mrs. Beckwith. Mr. R. Penn der ebenfalls dort speist teilt uns mit dass sie eine Botschaft vom König erhalten haben die sich über das Verhalten Spaniens beschwert das zwei britische Schiffe an der Westküste Nordamerikas aufgebracht hat. Die Anschauung ist dass Spanien in eine Fügung hineingeschüchtert werden kann. Als ich mich gerade verabschiede sagt mir Mrs. Beckford dass Mrs. Plater tot ist. Ich entferne mich so schnell wie möglich um keine Gefühle zu erfahren die ich nicht verbergen könnte. Arme Eliza! Meine liebe Freundin; so ruhst du in Frieden und ich erblick dich nimmer wieder. Niemals. Niemals. Niemals.8
Kennt man Morris’ Schreiben, so ist hieran nichts ungewöhnlich. Dies ist seine Stimme – vor dem Terror, währenddessen und noch lange danach. Er griff regelmässig auf Shakespeare zurück, am meisten auf die Königsdramen, deren Worte er auswendig wusste: Richard III, Henry V, König Lear …
ich erblick dich nimmer wieder. Niemals. Niemals. Niemals.
Die Worte hallen Lears Klage wider:
O du kehrst nimmer wieder,/Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals!
(König Lear, 5. Akt, 3. Szene)
Doch dies ist keine Romantik.
Es ist filial.
Kindsbezogen.
Der König hält den Leib seiner toten Tochter Cordelia im Arm und überwältigt beklagt er sein Kind.
Warum also wählte Gouverneur Morris eben diese Worte, um seine “liebe Freundin” zu betrauern?
Die Antwort liegt in den Briefen der Platers.
Unmögliche Liebhaber
Die Briefe der Platers an Gouverneur Morris sind Teil der Special Collections der Columbia University Library innerhalb der Gouverneur Morris Papers und wurden von den Maryland State Archives digitalisiert. Ein herzliches Dankeschön an die lieben Kolleginnen und Kollegen dafür.
Direkte Zitate aus dieser Quelle markiere ich mit einem *.
Eine andere Art von Liebe
Ich habe sämtliche Briefe an Gouverneur auf Spuren von Romantik oder Anzeichen einer verborgene Leidenschaft hin untersucht und fand…
nichts.
Stattdessen entstand ein Zeugnis einer tiefen Freundschaft des 18. Jahrhunderts, voller Vertrauen, Leichtigkeit und Heiterkeit, mit reichlich Zärtlichkeit in der gegenseitigen Fürsorge … bis Gouverneur beiden aufhörte zu schreiben und nicht mehr nur Eliza. Doch ich greife vorweg.
Die Briefe zeigen deutlich, wie George und Eliza Plater für eine Zeit lang zu verlässlichen Elternfiguren wurden – lange bevor sie ihr Haus in Philadelphia für Gouverneurs Genesung von seinem “schrecklichen Fall”* öffneten.
Nach dem Fall
Der Mythos, dass Morris während seiner Amputations-Rekonvaleszenz in der Lage gewesen sein soll, eine körperliche Beziehung zu führen, gilt unter den Historikerinnen und Historikern mit denen ich sprach, als längst widerlegt. Ich habe es jedoch bislang nirgends schriftlich gefunden, darum lege ich es kurz dar, auch wenn es für ein modernes Verständnis eigentlich keiner Erklärung bedarf.
George und Gouverneur hatten eine gemeinsame Kongressreise von Philadelphia aus geplant, als der Unfall passierte. Das Haus der Platers wurde als Pflegeort angeboten (möglicherweise sogar für die Operation selbst), was am Vermutlichsten an der Barrierefreiheit lag. Nach der Amputation seines Beins am 14. Mai 1780 konnte Morris monatelang weder reiten noch Treppen steigen.
Schon wenige Tage später schrieb George von seinem Familiensitz “Sotterley” in Maryland, der Arzt habe berichtet, Gouverneur ginge es schon
besser seit dem Tag nachdem wir Euch verliessen.*9
George, Eliza und ihre sechs Kinder hatten Philadelphia verlassen, bevor Morris auch nur in der Lage war, seinen eigenen Namen zu unterschreiben. Die Vorstellung also, dass Gouverneur ans Bett gefesselt, mit offener Wunde und ohne Schmerzmittel, in diesen Monaten eine Liebesaffäre begonnen haben soll, ist nicht nur unplausibel, sondern absurd.
Briefe über den Sommer hinweg bestätigen, dass Eliza sich noch immer in Maryland aufhielt, während Morris kaum vom Bett auf einen Stuhl wechseln konnte. Erst im November war er wieder stark genug, um “auszugehen”*, und verliess er das Haus der Platers, um wieder in die Gesellschaft zurückzukehren.
Viel zu früh für sein eigenes Wohl, aber typisch für seine scheinbar lebenslange Verweigerung grundsätzlichen Selbsterhalts.
Er betrat die Bühne der Gesellschaft Philadelphias nicht als irgendwer, sondern als Anne Willing Bingham auserwählter Zeremonienmeister (ein Thema für ein eigenes “The Art of Seduction”-Essay) und blieb bei den Platers tief in der Freundschaftsschuld, die er nie vergass.
Haushaltsbesorgungen
Die Briefe zwischen George und Gouverneur zeigen eine Vertrautheit, die weit über gewöhnliche Höflichkeit hinausgeht: Sie tauschten Strategien und Klatsch, schickten einander Gedichte zu, Gouverneur fragte regelmässig nach Georges Gesundheit, und dieser lud ihn wiederum immer und immer wieder auf sein Anwesen in Maryland ein.
Eliza war in seinen Briefen allgegenwärtig, mit fast ritueller Beständigkeit:
Mrs. P. schreibt Ihnen*
Mrs. P. droht, Ihnen einen Brief zuzuwerfen*
Auch mal ein bisschen neckischer:
Mrs. P. bereitet Ihnen viel Mühe, doch ich glaube Sie empfinden das nicht so.*
Und mein persönlicher Favorit:
Den Teil Ihres Briefes der sie betraf habe ich ihr gezeigt, und ich zweifle nicht dass sie Ihnen genug Vergnügen bereiten wird das Sie so empfinden ihren Kommandos zu folgen.*
All dies zeigt, Gouverneur war mehr als nur ein vertrauter Freund. Die elterliche und leicht bevormundende Zuneigung ist klar rauszulesen.
Genauso bei Morris.
Anfang 1781, nur wenige Monate nach seinem Unfall, schreibt er Eliza mit dem Geplänkel eines Sohnes an eine Mutter, woraufhin der Vater antwortete mit:
Ich lese wie Sie sich in Ihrem Brief an Mrs. P., darüber beschweren, dass Sie nichts von mir hören (…) Ich habe nichts Berichtenswertes und nehme nur die Feder zur Hand, um Sie zu überzeugen, dass ich weder tot bin, noch die Gicht im Daumen habe.*
Mit anderen Worten: Gouverneur hatte Eliza geschrieben, ihr Mann würde ihn ghosten. Sie waren zu jener Zeit in einem regelmäßigeren Austausch. Aber worüber?
Sachen.
Haufenweise Sachen.
Schuhe, Pantoffeln, Hauben, Goldfaden, Seide… Sie dankte ihm für Gefallen und Besorgungen, schrieb besorgt wegen Verzögerungen, schickte ihm Massangaben ihrer Füsse und eine Entschuldigung, als sie eine versprochene Geldbörse mangels Materials nicht fertigstellen konnte.
Die Zeile, die Miller aus dem Zusammenhang gerissen hat, um sie als Verführung darzustellen
… ausser damit gehe ich zuweit, wie ich es ein oder zwei mal tat*
steht eingebettet zwischen der detailliertesten Bestellung für Pantoffeln und einer Haube, die man sich überhaupt vorstellen kann.
Es findet sich kein einziger Liebesbrief. Nur die geschäftige, etwas zu beharrliche Stimme einer Frau, die französische Mode schätzte, einen Haushalt mit sechs Kindern und gesellschaftlichen Verpflichtungen führte und einen jungen Freund sanft - mitunter auch ein wenig frech - drängte, sie mit dem Nötigen zu versorgen.
Einen Freund, den sie sehr lieb hatte:
Ich hatte das Vergnügen, Mr. und Mrs. Griffin auf ihrem Weg nach Virginia zu sehen.
Mrs. G. war so gütig, mir tausend Fragen zu beantworten, die ich sehr gern wissen wollte.
Sie sagte mir, es gehe Ihnen sehr gut und Sie seien richtig fett geworden. Sie können sich leicht vorstellen, wie glücklich mich das machte. Sorgen Sie für sich, mein lieber Herr, und dass Sie stets gesund und glücklich seien, ist mein beständiger Wunsch.*
Gouverneur, das freundliche Gespenst
Das ist die eigentliche Geschichte:
Keine verborgene Leidenschaft, sondern ein vertrautes, familiäres Muster.
George drängte Morris mindestens ein Dutzend Mal, nach Maryland zu kommen – und Eliza stimmte mit ein. Sie sehnte sich nach einem Besuch, manchmal so vorwurfsvoll, dass es so klang wie “Wenn Sie wollten, würden Sie.”
Doch er kam nie.
Stattdessen erledigte Morris jede einzelne ihrer Bitten und Besorgungen aus der Ferne und “vergass” dabei oft, diese der Familie in Rechnung zu stellen. Was seine Biografisten als romantische Beziehung deuteten, wirkt in den Briefen selbst entschieden mehr nach elterlichem Wortwechsel durchzogen von Dankbarkeit.
Sie fragten, er lieferte.
Es ist eines der zentralsten Muster, die sich durch Gouverneur Morris’ Leben ziehen: Er war ein ausserordentlich treuer und gefälliger Freund, für jeden, der ihn um etwas bat – egal ob Freund oder Feind. Das hob die Platers nicht von anderen ab.
Nein, was sie und ihre Beziehung mit Gouverneur besonders machte, war wie sie ihn im Gegenzug behandelten: Sie dachten an ihn, und nahmen auf ihn Rücksicht.
Erweiterte Familie
Dass die Platers für Morris eine Art Elternrolle einnahmen, ergibt durchaus Sinn, wenn man bedenkt, was ihm daheim fehlte. Sein Vater verstarb, als er jung war, und seine Mutter beantwortete seine Briefe nur selten. So selten, wie Anne Cary Morris’ Zitat am Anfang sichtbar machte, dass er sich fragte, ob sie seine Briefe überhaupt erhielt. Eliza und George waren das genaue Gegenteil. Sie schrieben ihm, bedankten sich und nahmen Anteil.
Dass die Platers Morris wiederum als eine Art älteren Adoptivsohn betrachteten, passt auch sehr gut, da sie ihn gern als versorgt oder verheiratet gesehen hätten.
Eins der wichtigsten Themen für Gouverneur Morris’ eigenes Leben.
Ihre Briefe sind voller Anspielungen auf eine gewisse Mrs. Richard Lloyd.
Dabei handelt es sich um Joanna (geb. Leigh), später Beckford, die Morris schliesslich in London von Elizas Tod berichtete. Sie war in Wahrheit eine Cousine Elizas, die sich in den modischsten Kreisen Philadelphias bewegte.
Eliza stupste Gouverneur mit sanften Erinnerungen an:
Es würde mein Vergnügen sehr fördern, Sie hier mit Mrs. Lloyd zu sehen; Sie haben es ja gewiss in Ihrer Macht und warum wollen Sie ihre Freunde nicht so glücklich machen?*
George hingegen neckte ihn lieber mit väterlichem Augenzwinkern, wann immer die “Schönste der Schönen”* in seiner Umlaufbahn war.
Sie beide verfolgten Gouverneurs Schritte in Philadelphia, gaben seine Komplimente weiter, ja berichteten ihm sogar, dass seine Gedichte zu spät angekommen seien: Joanna war bereits wieder abgereist, ehe seine Verse sie erreichten.
Doch George fügte der schlechten Nachricht umgehend hinzu:
Wann immer ich ein Spiel mit einer schönen Dame spiele seien Sie versichert dass ich stets darauf achte in Ihre Richtung zu zeigen.*
Diese Momente machen deutlich: Ihnen lag Gouverneurs Zukunft sehr am Herzen, und sie bemerkten, wenn er zögerte. Eliza drängte ihn, zuweilen vielleicht etwas zu frech, mit der Hartnäckigkeit von jemandem, der ihn als Familie betrachtete: “Erinnern Sie sich an die schönen Stunden mit Mrs. Lloyd?” Währenddessen spielte George den Wingman und brachte seinen eng befreundeten, gutaussehenden Junggesellen aus Philadelphia stets ins Gespräch.
Gemeinsam umsorgten sie ihn wie Eltern, die einen begabten, doch vom Schicksal gebeutelten Sohn durch Arbeitsüberlastung am Rande der Lebensbühne verweilen sahen.
Bis schliesslich alles zusammenbrach – auf eine schrecklich vertraute Art und Weise.
III. Das Bittere Ende
Als die Nachricht von Elizas Tod Morris in London erreichte, durchbrach sie jegliche Skepsis und Abwehr, die er seit Paris so sorgfältig zu pflegen versuchte.
“Ich entferne mich so schnell wie möglich, um keine Gefühle zu erfahren die ich nicht verbergen könnte.”
Er fürchtete sich so sehr vor seiner eigenen Reaktion, weil er nicht zum ersten Mal davon erfuhr, dass eine Mutterfigur in seiner Abwesenheit verschieden ist.
Ein vertrauter Schmerz
Sarah Gouverneur Morris verstarb am 15. Januar 1786 in New York, als er woanders war.
Er sagte eine Geschäftsreise nach Baltimore ab und eilte nach New York für das Begräbnis.10
Und nun ist es der 5. Mai 1790: Gouverneur Morris befindet sich in London im Haus einer alten Freundin und irgendwie weiss er in seinem Herzen, dass die traurige Nachricht wahr ist. Sein Schock und seine Trauer wiederhallten von einem allzu vertrauten Akkord, den Elizas Hinscheiden in ihm anschlug.
Er hatte eine weitere Mutter verloren, während er weit entfernt war.
Eliza war bereits im vergangenen November an Tuberkulose gestorben. Damals war er noch in Amerika. Er hätte sie noch sehen können, doch er tat es nicht. Und nun konnte er es niemals mehr. Der Gedanke erfüllte ihn mit so viel Schuld und Reue, dass er ihn noch am selben Tag mit einem Shakespeare’schen Aufschrei in sein Tagebuch bannte.
Vom Sterben erfahren
Dies war nicht das erste Mal, dass Morris vom Tod eines Freundes mitgeteilt wurde. In der Tat war es die übliche Art, wie Nachrichten damals verbreitet wurden, und wie Menschen davon erfuhren. Danach schrieb man den Betroffenen, um die Kunde zu bestätigen.
Sein guter Freund Robert R. Livingston hatte einst das Gerücht weiterverbreitet, George Plater sei gestorben. Morris erkundigte sich sofort, wenn auch scherzhaft, bei seinem alten Freund, woraufhin George antwortete mit:
Lieber Morris,
Ich habe das Vergnügen, zwei Briefe von Ihnen zu empfangen, den letzten vom 24. Juni, in welchem Sie mir zu meiner gelungenen Auferstehung gratulieren. Ich kann nicht sagen, was Herrn [James] bewog, mich zu töten, doch dies kann ich versichern: die Gesundheit meines Leibes ist vollkommen.*
Das Timing
Diesmal jedoch erwies sich das Gerücht als wahr. Auf dem Umschlag eines Briefes, den Gouverneur im Juli in London von George Plater erhielt, hatte der Witwer die Worte geschrieben:
Mrs. Plater ist nicht mehr.*
Und im Brief selbst finden wir eine weitere Enthüllung dafür, was in Gouverneur eine so starke Mischung aus Gewissheit und Entsetzen ausgelöst hat, als er die traurige Nachricht drei Monate zuvor zufällig erfuhr:
Lieber Morris,
Ihr Brief vom 22. März aus Amsterdam ist wohlbehalten bei mir eingetroffen, doch die Person, an die Sie ihn richteten, ist – Ach! – nicht mehr.*
Morris hatte Eliza zum ersten Mal seit Jahren geschrieben.
Nur wenige Wochen bevor er von ihrem Tod erfuhr.
Doch die transatlantische Post war zu langsam. Es konnte damals zwei bis vier Monate dauern bis ein Brief die andere Seite des grossen Teichs erreichte. Als seine Worte aus den Niederlanden in Maryland ankamen, hatte sie bereits das Zeitliche gesegnet.
Sehr wahrscheinlich plante er auch nachzufassen und den Platers zu berichten, dass er ihre geliebte Mrs. Lloyd, nun Beckford, im Mai in London wiedergetroffen hatte. Stattdessen war es Joanna, die ihm mitteilte, daß Eliza gestorben sei. Und da sein eigener Brief bereits in der Welt war, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Georges Antwort zu warten.
Eine Antwort, die den Verlust bestätigte, den er längst geglaubt hatte.
Die gute Nachricht
Am Morgen des 20. März 1790 setzte sich Gouverneur Morris in Amsterdam zum letzten Mal an seinen Schreibtisch, um Briefe zu verfassen. Er war aus Paris gekommen, wo er inoffizielle Geschäfte wahrgenommen hatte, und wollte noch am selben Wochenende weiter nach London reisen, von wo aus er die Heimfahrt nach New York antreten sollte. Seine Briefe verliessen Amsterdam mit ihm, am 22. März.
Warum also nahm er nach Jahren des Schweigens ausgerechnet jetzt die Feder zur Hand, um Eliza zu schreiben?
Am Wahrscheinlichsten, weil er jemanden kennengelernt hatte.
Sein Tagebuch vom Abend zuvor berichtet von einer vielbedeutenden Begegnung:
Madame Sara scheint mehr Verständnis zu haben als ihre Schwägerin; sie ist ebenso schön, wenn auch in einem andern Stile, und hat eine “air moins lubrique”, doch ihre Augen reden die Sprache jenes Gefühls, das das Herz erwärmt und zum schmelzen bringt…
‘Kein Puls als das Pochen der Entzückung, kein Laut als das Murmeln des Vergnügens.’
Nur der Himmel weiss, oh schöne Töchter Zions, ob es mir je wieder vergolten wird, Euch zu sehen. Alles was ich tun kann, ist ein wenig Voreingenommenheit zu erwecken die zukünftige Bemühungen nicht verungünstigt, sollte mich der Zufall jemals wieder in jenen Kreis versetzen, welchen Ihr mit so viel Licht erfüllt. Ich stelle fest, meine Verehrungen werden nicht übel aufgenommen von der anmutigen Sara (…)11
Vielleicht war das alles was es brauchte. Für einen Mann, der Zuneigung stets in sich verschloss, bis sie in Lyrischen Sturzbächen hervorbrach, war selbst diese flüchtige Resonanz genug, Hoffnung und Erinnerung zu wecken. Sie rief ihm Elizas beharrlichen Rat ins Gedächtnis, ihr sanftes Drängen, sich nicht an seiner Arbeit zugrunde zu richten, und die halbspielerischen Ermahnungen der Platers, lieber Gesellschaft zu suchen. Vielleicht klang darin auch das zarte Entgegenkommen Joanna Lloyds nach, das er einst in Philadelphia erfahren hatte.
So trug der Brief den er an Eliza richtete keine Verführung in sich, wohlmöglich aber eine Spur schüchterner Schwärmerei – die sanfte Umringung von Romantik, die Beatrix Davenport in ihrem Porträt erwähnte, die eine dezente nicht zu aufdringliche Melancholie als Panzerung seines Herzens hinterliess. Entstanden, nicht durch Eroberung, sondern Erinnerung daran wie sehr er sich danach sehnte, Fürsorge zu empfangen und diese zu erwidern.
Trauer und Schuld
Und so traf ihn die Nachricht von Elizas Tod am Ende mit besonderer Wucht. Seine Trauer war doppelt. Sie öffnete eine Wunde, die unmöglich schon verheilt war:
Seine eigene Mutter starb in seiner Abwesenheit, ohne die Möglichkeit Abschied zu nehmen. Und nun Eliza, seine “liebe Freundin”, auf genau dieselbe Weise.
Morris hatte sich zurückgezogen, die Korrespondenz mit den Platers unter der Last seiner Arbeit einschlafen lassen und war dann über den Ozean gereist. Doch plötzlich schrieb er wie aus dem Nichts einen Brief an Eliza, um über die Liebe zu sprechen.
Doch sie war nicht mehr.
Stets sein eigener Richter und Henker, tat Morris, was er immer tat:
Er kehrte die Schuld nach innen. Und schrieb.
Wie König Lear sich selbst dafür verdammte, Cordelia verstossen zu haben, so wusste Morris, er hatte zu viel entgleiten lassen – und würde nun nie wieder Gelegenheit haben, es wiedergutzumachen.
Wenn es also einen Mythos um Morris gibt, den man verabschieden sollte,
so ist es der der Eroberung.
Und wenn es ein Vermächtnis von Gouverneur gibt,
das in seiner Erinnerung zu bewahren bleibt,
dann ist es das der Fürsorge.
Post Scriptum: Fürsorgliche Poesie von einem lieben Freund
Um dieses Essay nicht auf der traurigsten Note des Verlustes enden zu lassen, möchte ich noch teilen, welche fürsorgliche Zärtlichkeit aus George Platers Feder in der Korrespondenz mit Gouverneur entsprang. Am 10. Januar 1779, in einem besonders harten Winter, schrieb er ihm aus Sotterley Hall um sich zu entschuldigen, noch nicht nach Philadelphia zurückkehren zu können, da Flüsse und Straßen vereist seien.
“Eine weitere Enttäuschung die schwer auf mir sitzt und auch Sie gleichermassen betrifft
denn wir hatten beantragt Schinken Fleisch Wein etc. hochzuschicken.”*
Dann fügte er hinzu:
Mrs. P. sitzt nun an meiner Seite und verfasst ein Schreiben an ihre Freundin Mrs. Lee.
Sie legt die Feder nieder und schwört, sie werde so fett, dass sie all ihre Kleider sprenge. Meine Bemerkung dazu ist, dies sind schlechte Zeiten und ein schlechter Ort, um neue zu besorgen.Ich bin geneigt zu glauben, dass sie gerade über Sie schreibt; immerhin beweist es, dass sie ihrer abwesenden Freunde gedenkt, und als weiteren Beweis wünscht sie dass ich Ihnen ihre ehrerbietigen Grüße auszurichte.
Jetzt ist mein Papier schon fast gefüllt deswegen schliesse ich mit dem folgenden Werk.
O möge keine Sorge stören Ihr friedliches Leben,
Ihr glückliches Haus sei niemals mit Zwist umgeben,
Und mögen all Ihre Tage hell, und Freuden heiter sein,
Und Kummer nur beschieden den Feinden darein.Von Ihrem wahren Freund
Geo. Plater
Diese vier Zeilen am Ende sind das einzige bekannte Beispiel einer dichterischen Schöpfung die offenbar von George selber stammt. Es ist so wunderbar Passend:
Die einzigen erhaltenen Verse, zärtlich und beschützend,
gesandt an Gouverneur, als Segnung und Danksagung zugleich.
Quellen und Übersetzungshinweise:
Sparks, Jared. Life of Gouverneur Morris Vol.I. Gray & Bowen, 1832. (S. 223)
Morris, Anne Cary. The Diary and Letters of Gouverneur Morris. Trow’s, 1889. (S. 9)
Davenport, Beatrix Cary. A Diary of the French Revolution by Gouverneur Morris 1752-1816 Minister to France during the Terror. George G. Harrap & Co. Ltd., 1939. (S. xv)
Swiggett, Howard. The Extraordinary Mr. Morris. Doubleday & Company Inc., 1952. (S. 80)
Mintz, Max M. Gouverneur Morris and the American Revolution. University of Oklahoma Press, 1970. (S. 141-142)
Miller, Melanie Randolph. Envoy to the Terror: Gouverneur Morris & the French Revolution. Potomac Books, 2004. (S. 5)
Miller, Melanie Randolph. An Incautious Man - The Life of Gouverneur Morris. Regnery Gateway, 2024. (S. 46-47)
Davenport, ibid.
Was Beckwith/Beckford betrifft, hat es Frau Davenport sehr gut ausgedrückt: “Einheitlichkeit beim Schreiben von Personennamen war damals noch nicht in Mode; bei Morris verhärtete sich die phonetische Schreibweise nach dem ersten Hören graduell in irgendeine akzeptierte Form.” (S. IX)
Im Englischen des 18. Jahrhunderts gab es keine klare Trennung von “Du” und “Sie”. Nähe oder Distanz wurde vor allem durch Anredeformeln und Tonfall vermittelt. In dieser Übersetzung verwende ich die “Sie”-Form, da sich die Briefpartner stets mit Nachnamen adressierten und nie Vornamen oder vertrauliche Kosenamen verwendeten. Zwar würde auch die “Du”-Form meine These stützen, indem sie die emotionale Wärme und Fürsorge stärker hervorhebt, die in den Briefen deutlich spürbar ist. Doch die “Sie”-Form bleibt näher an der historischen Realität und macht zugleich sichtbar, wie sehr Zuneigung und Intimität auch innerhalb konventioneller Förmlichkeit Ausdruck finden konnten.
Mintz, Max M. ibid. (S. 172)
Davenport, ibid. (S. 452)
Alle Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche (sofern nicht anders angegeben) habe ich persönlich in Zusammenarbeit mit ChatGPT (OpenAI, GPT-5, September 2025) angefertigt.